N. 3 – Maggio 2004 – Memorie

 

 

Wolfgang Sellert

Georg-August-Universität Göttingen

 

 

 

 

STATIONEN DES PARTIKULARISMUS UND FÖDERALISMUS IN DEUTSCHLAND

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhalt: I. Begriffliches. – II. Historische Entwicklungen. – 1. Mittelalter. – 2. Neuzeit. – 3. Entwicklungen des Föderalismus. im 19. Jahrhundert. – 4. Das föderative System der Weimarer Republik. – III. Schlußbetrachtung. – Ausgewählte Literatur.

 

 

I. Begriffliches

 

Föderalismus, Partikularismus und Regionalismus sind schillernde Begriffe, deren Wesensmerkmale sich nicht präzise bestimmen lassen. Teils sind es gesellschaftliche, teils geistig-kulturelle, teils politische aber besonders auch staatlichverfassungsrechtliche Zustände und Verhältnisse, die mit ihnen beschrieben werden sollen. Erschwerend kommt hinzu, daß diese Begriffe eine jeweils von Land zu Land nuancierte Bedeutung haben. Es lassen sich daher nur einige allgemeine Unterscheidungskriterien angeben.

Der Begriff des Regionalismus ist hauptsachlich ein sozialökologischer Terminus. Die Region umfaßt ein nicht zwingend an staatliche Grenzen gebundenes Gebiet, in dem die Bevölkerung durch gemeinsame in ihrer Geschichte wurzelnde Merkmale geprägt ist. Regionalismus meint folglich das Bestreben, diese Merkmale nach ihren Schwerpunkten wie Kultur, Religion, Gesellschaft, Wirtschaft, Volkstum etc. zu bewahren und vor fremden - meist gesamtstaatlichen - Einflüssen zu schützen. Die Regionen sind, wie besonders in Frankreich (Départements), aber auch in Italien (Regioni) - Gebietskörperschaften eines Einheitsstaates, denen die Eigenstaatlichkeit fehlt. Neuerdings wird der Begriff der Region aber auch für den Zusammenschluß. mehrerer europäischer Staaten zur Lösung wirtschaftlicher Probleme innerhalb ihres Gebietes verwendet. Das gilt für die Europäischen Gemeinschaften und die sie einschließende Europäische Union (EU).

Partikularismus ist ein meist abwertend verwendetes Schlagwort für das Bestreben der Bewohner eines Teilgebietes im Einheits- oder Bundesstaat auf Kosten des Gemeinwohls Sondervorteile zu erlangen. Die entsprechenden Forderungen zielen i.d.R. auf Autonomie und staatliche Dezentralisation. Im Einheitssaat werden sie von den Regionen und im Bundesstaat von dessen Gliedstaaten - gelegentlich auch mit unlauteren Methoden - verfolgt. Geht es um die völlige Abtrennung eines Gebietsteils aus dem bisherigen Staatsgebilde, schlägt der Partikularismus in Separatismus um.

Vieldeutig ist der Begriff des Föderalismus (lat. foedus, Bund, Bündnis). Eines seiner Hauptmerkmale ist, daß er sich nur auf Staatenverbindungen und nicht auf Einheitssaaten bezieht. Im übrigen steht er einerseits für eine soziale, wirtschaftliche oder politisch-weltanschauliche Gesinnung, die auf die Stärkung eines Einzelstaates zielt. Im Kern geht es um Vielfältigkeit, d.h. um die Anerkennung politischer und kultureller Verschiedenartigkeiten in einer Staatenverbindung. Andererseits beschreibt der Föderalismus ein verfassungsrechtliches Struktur- und Organisationsprinzip. Föderalistisch ist ein Staat organisiert, wenn er aus dem Zusammenschluß mehrerer Gliedstaaten besteht. Dabei kann es sich um einen Staatenbund oder um einen  Bundesstaat handeln. In einem Staatenbund (Staatenföderation) sind wie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika die Zwangsbefugnisse des Gesamtstaates gegenüber den Gliedstaaten nur schwach entwickelt. Die Souveranität der Gliedstaaten bleibt weitgehend erhalten. In einem Bundesstaat (Föderativstaat) hat der Gesamtstaat wie im Falle der Bundesrepublik Deutschland die Entscheidungsgewalt in allen die Einheit und den Bestand des Ganzen betreffenden Fragen. Im Gegensatz dazu steht der Einheitsstaat, in dem nur eine einzige Staatsgewalt über das einheitliche Staatsgebiet und das einheitliche Staatsvolk herrscht. Dazwischen gibt es eine Fülle von Mischformen, so daß die Frage, ob es sich um eine Staatenföderation oder um einen Föderativstaat handelt, nicht ohne weiteres zu entscheiden ist.

Im übrigen ist zwischen einem mehr das einigende und einem mehr das trennende Element betonenden Föderalismus zu unterscheiden. Überwiegt die Tendenz zur Einigung, spricht man von einem unitarischen Föderalismus. Liegt der Schwerpunkt auf der Trennung, spricht man von einem partikularistischen Föderalismus.

Lange beruhte der Föderalismus. ganz überwiegend auf historisch gewachsenen Grundlagen kultureller, politischer, sozialer und wirtschaftlicher Eigenheiten. Als tragende Kraft setzen sich heute zunehmend aber auch rein wirtschaftlich-utilitaristische und funktionale Beweggründe durch. Beispielhaft sind wiederum die Europäischen Gemeinschaften, die teils als Regionen, teils aber auch als «überstaatliche Föderationen» bezeichnet werden (P. Badura).

Insgesamt ist der Föderalismus - so der treffende der Titel eines Buches des politischen Schriftstellers Constantin Frantz (1817-1891) - das «Leitende Prinzip für die soziale, staatliche und internationale Organisation» (1879).

 

 

II. Historische Entwicklungen

 

1. – Mittelalter

 

Die Wurzeln des deutschen Föderalismus. liegen paradoxerweise in einem bis tief in das Mittelalter zurückreichenden Partikularismus. Spätestens seit dem Ende des Karolingerreiches wird die deutsche Verfassungsgeschichte nämlich einerseits bestimmt durch die Anstrengungen der deutschen Herrscher um den Ausbau und den Erhalt einer im wesentlichen auf Lehensrecht beruhenden kaiserlichen Zentralgewalt und andererseits durch die nach Selbständigkeit strebenden lehensrechtlich gebundenen Fürsten.

 

a. Confoederatio cum principibus ecclesiasticis und Statutum in favorem principum.

Den deutschen Kaiser sind nur zeitweise, dem Ziel eines einheitlichen Lehensstaats mit monarchischer Spitze näher gekommen. Die vermutlich geheime Absicht Kaiser Friedrichs II., den mittelalterlichen Lehensstaat nach dem Vorbild seines Erbreichs Sizilien zu einem modernen absolutistisch regierten Macht- und Beamtenstaat mit einheitlicher Verwaltung, Gerichtsbarkeit und Steuerpolitik umzubilden, scheiterte an den Partikulargewalten.

Zur Behauptung ihrer Autonomieansprüche verbündeten sich einige von ihnen gegen den Kaiser. Sie konnten ihm schließlich wichtige Privilegien abringen, die fortan ein entscheidendes Fundament für die Entwicklung des deutschen Partikularismus bildeten. Es handelt sich um die sog. confoederatio cum principibus ecclesiasticis vom 26. April 1220 und das Statutum in favorem principum aus dem Jahre 1231. Mit diesen Fürstenprivilegien hat nach einer älteren Auffassung die kaiserliche Zentralgewalt unwiderruflich wichtige Hoheitsrechte der Krone den Fürsten preisgegeben und damit den Anfang der fürstlichen Landeshoheit begründet.

Auch wenn nach einer neueren Ansicht die Fürstenprivilegien nicht erst die Landeshoheit geschaffen, sondern lediglich die bereits bestehenden Verhältnisse legalisiert haben, zeigen diese uns doch im Ergebnis das bereits im 13. Jahrhundert  bestehende Ausmaß des Partikularismus. So enthalten die Fürstenprivilegien u. a. einen weitgehenden Verzicht des Konig-/Kaisertums auf die Ausübung der Hoheitsrechte über Gericht, Geleit, Münze und Zoll, Burgen- und Städtebau im Gebiet der damals schon als domini terrae bezeichneten fürstlichen "Landesherrn".

 

b. Goldene Bulle v. 1356.

Das nächste hervorzuhebende Ereignis in der deutschen Partikularismusentwicklung war die unter Kaiser Karl IV. ergangene Goldene Bulle von 1356. Dort wurden den Kurfürsten die sog. privilegia de non appellando et de non evocando eingeräumt. Der Rechtsweg landesherrlicher Untertanen an den Kaiser war damit - ausgenommen in Fällen von iustitia negata et protracta - ausgeschlossen. Der Kaiser verzichtete Föderalismus auf sein Recht, Prozesse, die an den Gerichten der Landesherren schwebten, zur Entscheidung an sein Hofgericht zu ziehen. Die Kurfürsten erlangten auf diese Weise eine eigenständige vom Kaiser weitgehend unabhängige Justizhoheit, die sie alsbald dazu nutzten, um einen Gerichtsaufbau mit einem höchsten Landesgericht und Instanzenzügen in ihren Territorien zu organisieren. Darüber hinaus erklärte die Goldenen Bulle die großen Fürstentümer für unteilbar und legte die Primogeniturerbefolge fest.

 

c. Reformvorschläge des NICOLAUS v. CUES.

Mit diesen Privilegien hatten die Partikularbestrebungen der deutschen Kurfürsten einen vorläufigen Höhepunkt, aber bei weitem noch nicht ihr Ende erreicht. Der bekannte Kardinal NICOLAUS V. CUES (1401-1464) sah daher in seiner Schrift De concordantia catholica (1433) die Gefahr, daß das Reich durch den fortschreitenden Partikularismus auseinanderbrechen und ganz Deutschland «einer anderen Nation unterworfen» werden könne.

Seine Reformvorschläge, die u.a. eine alljährlich stattfindende Reichsversammlung, eine Neuordnung der Gerichtsbarkeit und die Aufstellung eines stehenden Reichsheeres vorsahen, blieben unerfüllt. Die mittelalterliche Verfassungsgeschichte bewegte sich weiterhin im Spannungsfeld zwischen Reich und Territorien, zwischen Einheitsgedanke und Partikularismus.

 

 

2. - Neuzeit

 

a. Reichsreformen: Ewiger Landfriede, Reichskammergericht, Reichssteuer, Reichsregiment, Wahlkapitulation.

Schon am Ende des 15. Jahrhunderts war das Reich nach innen und außen politisch kaum noch handlungsfähig. Es hatte keine festen Grenzen, keine eigenen Truppen, keine gegen den Willen der Reichsstände durchsetzbare Exekutiv-, Legislativ- und Jurisdiktionsgewalt. Um Frieden und Recht im Reich zu sichern, bedurfte es daher einer Verfassungsreform, die einerseits Autonomie und Mitwirkungsrechte der Reichsstände sicherte sowie andererseits die kaiserliche Zentralgewalt nicht zerstörte. Dieses Ziel sollte 1495 unter MAXIMILIAN I. (1493 - 1519) mit einer gegenseitigen Verpflichtung zwischen Reichsständen und Kaiser, also auf föderativem Wege erreicht werden. Es wurden einige reichsrechtliche Institutionen beschlossen, die über alle Partikularinteressen hinweg Stabilität und Handlungsfähigkeit des Reiches gewährleisten sollten. Dazu gehörten in erster Linie der sog. "Ewige Landfriede" und das Reichskammergericht (RKG) sowie eine auf vier Jahre begrenzte Reichssteuer (Gemeiner Pfennig).

Die Reformen gingen eindeutig zu Lasten der Zentralgewalt. So war das RKG ein von Kaiser unabhängiges und nicht an seinem Hoftagendes Gericht, über dessen Besetzung nicht mehr der Kaiser allein, sondern die Reichsstände federführend bestimmten. Wenige Jahre später sollte die Zentralgewalt außerdem durch das sog. Reichsregiment weiter beschränkt werden. Gedacht war an ein mit dem Kaiser und den Reichsständen kollegial besetztes Regierungsorgan, das anstelle des schwerfälligen Reichstages über alle und jede unsere als Römischen König und des heiligen Reiches Sachen, Recht (und) Fried.. rathschlagen und endlich beschließen sollte. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch nicht nur am Widerstand der Krone, sondern auch an den Reichsständen, denen es bei fast allen Reformen weniger um Mitbestimmung in Reichsangelegenheiten, sondern um ihre Autonomieinteressen gegangen war. Auch die Erhebung des Gemeinen Pfennigs fiel letztlich diesen Interessen zum Opfer.

Immerhin hatte das RKG eine letzte Klammer sein können, um das Reich als politische Einheit zu bewahren. Aber auch diese Möglichkeit wurde vereitelt. Zum einen erfuhr das RKG nicht die notwendige finanzielle Unterstützung durch die Reichsstände: Zum anderen schränkte Karl V. (1519-1556) den Aktionsradius des RKG ein, indem er um 1550 in Wien den Reichshoftat (RHR) ins Leben rief, der fortan als kaiserliches Gericht mit dem RKG konkurrierte. Die Tatsache, daß es nun ein höchstes Gericht des Kaisers und ein solches der Reichsstände gab, zeigt anschaulich das Spannungsverhältnis zwischen Zentralgewalt und Partikularmächten.

Auf das ganze gesehen, war die Zentralgewalt durch die Reformen eher geschwächt als gestärkt worden. Hinzukam, daß seit 1519 ein designierter deutscher Kaiser überhaupt nur dann eine Chance hatte, gewählt zu werden, wenn er den Kurfürsten in einer sog. Wahlkapitulation förmliche Zusagen machte, die ganz überwiegend partikulare Interessen zum Inhalt hatten.

Dennoch war die Existenz des Reiches noch nicht gefährdet, weil sich die Reichsstände, sei es in kleineren oder größeren Gruppen, sei es mit oder ohne den Kaiser, sei es auf Zeit oder auf Dauer, immer wieder zu Aktionsgemeinschaften (Verein der Kurfürsten, Einungen, Ritter- und Städtebündnisse etc.) zusammenschlossen und - wie die regionalen und überregionalen Landfrieden zeigen - mit ihren Partikular- zugleich auch Reichsinteressen wahrnahmen. Auch wenn es wegen der zum Teil krassen Machtunterschiede kleiner, mittlerer und großer Territorien nicht gelingen konnte, das Reich einheitlich bündisch zu organisieren, so entwickelte sich spätestens jetzt eine föderative Praxis, die das Reich vor einem endgültigen Auseinanderfallen bewahrte.

 

b. Reichskreise als föderative Lösung.

            Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden daher von Kaiser und Reichsständen die sog. Reichskreise verabredet. Das Reich wurde 1512 zunächst in 10 und später in weitere Reichskreise eingeteilt. Aufgabe der Reichskreise sollte sein, den Frieden im Reich zu wahren und zu sichern, das Reichsheerwesen zu unterstützen, gegen das Verbrechertum vorzugehen, das Gesundheits- und Münzwesen zu organisieren und später auf der Grundlage der 1555 beschlossenen Reichsexekutionsordnung die Urteile der beiden Reichsgerichte, also des RHR und des RKG zu vollstrecken.

Zwar hatten die Kreise dem Reichsrecht zu dienen. Als Selbstverwaltungskörper der Reichsstände waren sie zugleich aber auch ein geeignetes Instrument zur Durchsetzung von Partikularinteressen. Wiederholt schlossen sich daher einzelne Kreise zu sog. Kreisassoziationen zusammen. Von hier aus betrieben die Reichsstände eine nicht selten gegen den Kaiser gerichtete Politik. Ihren Verpflichtungen gegenüber dem Reich kamen sie insoweit nur halbherzig nach. Der Dualismus zwischen Zentral- und Partikulargewalt blockierte weiterhin eine wirksame Reichspolitik.

 

c. Westfälischer Friedensvertrag.

Mit der Reformation und Gegenreformation sowie mit der konfessionellen Spaltung der Reichsstände in ein corpus catholicarum und ein gegen den Kaiser gerichtetes corpus evangelicorum verloren die Reichskreise im Laufe des Dreißigjährigen Krieges zunächst ihre Bedeutung.

Maßgebend wurde für die Verfassungsstruktur des Reiches stattdessen der Westfälische Friedensvertrag von 1648. Er verschaffte den Reichsständen nicht nur die Landeshoheit (ius territorii et superioritatis, IPO Art. V § 30), sondern auch das Recht, mit auswärtigen Staaten Bündnisse abzuschliefien (jus foederum, Art. 8 §2). und die Befugnis zur selbständigen Entscheidung über Krieg und Frieden (jus belli ac pacis). Damit hatten die Reichstände nahezu uneingeschränkte Souveränitätsrechte über ihre Territorien erlangt. Ihre Staaten wurden zu Volkerrechtssubjekten.

 

d. Assoziation der Vorderen Reichskreise.

Nach alledem fragt man sich, ob es bei den Selbständigkeitsbestrebungen der Territorialherren nicht bereits um Separatismus ging. Versuchten sie nicht ohne jede Rücksicht auf den Bestand des Reiches ihre Einzel- und Sonderinteressen durchzusetzen, nur um sich eines Tages gänzlich aus dem Reichsverband zu lösen?

Die Antwort lautet: nein. Das Reich als einheitliches Dach sollte nicht zerstört werden. Die Territorialherren hielten daher am Bestand des Reiches fest. Es ging ihnen um die securitas imperii et conservatio status praesentis... sub Auspicies Caesaris. Gelegentlich entsteht der Eindruck, als hätten sie das Reich gegen eine absolutistische Machterweiterung der kaiserlichen Zentralinstanz verteidigen wollen. Sie griffen daher auch nach dem Westfälischen Friedensvertrag auf die seit dem Mittelalter bewährte Bündnis- und Einungspolitik zurück. Noch 1696 schlossen sich der kurhessische, der fränkische, der bayerische, der schwäbische und der westfälische Kreis zur Assoziation der "Vorderen Reichskreise" zusammen. Erneut zeigte sich hier das Zusammenspiel von Föderalismus. und Partikularismus, mit dem die Auflösung des Reiches verhindert werden sollte.

 

e. Die Beurteilung der Reichsverfassung durch SAMUEL v. PUFENDORF: De statu imperii Germanici (1667).

Dennoch war das Reich als politisch einheitliches Gebilde schon am Ende des 17. Jahrhunderts nur noch ein Torso. Deutschland sei, so schrieb der Natur- und Völkerrechtler SAMUEL von PUFENDORF (1632-1694) in seinem 1667 erschienenen Werk De statu Imperii Germanici (Kap. VI § 9; VIII § 4), durch den Leichtsinn der Kaiser und durch den Ehrgeiz der Fürsten in ein unregelmäßiges, einem Monstrum ähnliches Gebilde (corpus irregulare monstro simile) umgewandelt worden, das nach den Kategorien aristotelischer Staatsformen nicht mehr eingeordnet werden könne. Es fehlte daher nicht an theoretischen Versuchen, das Reich staatsrechtlich als res publica mixta mit einer duplex potestas civilis (S. v. PUFENDORF) oder als ein Gebilde zu beschreiben, das aus einer res publica superior und den respublicae inferiores bestand (L. HUGO).

Als praktische Lösung empfahl Pufendorf, das Heilige Römische Reich deutscher Nation zu einem föderativen Bundesstaat umzuformen. Auch GOTTFRIED WILHELM LEIBNIZ (1646-1716) hatte schon vor PUFENDORF 1670 einen Plan entwickelt, das Reich als Staatenbund neu zu organisieren. Die Realisierung eines solchen Vorhabens hatte jedoch keine Chance. Dazu hätte es weitgehend gleichstarker und homogener Gliedstaaten und deren Bereitschaft bedurft, ihre Sonderinteressen zum Wohle des Ganzen zurückzustellen.           

Unterdessen blieb das Verhältnis zwischen Zentral- und Partikulargewalt weiterhin gespannt. Als die Reichsstände wieder einmal Kritik am RHR übten, ließ ihnen der Kaiser am 27. August 1712 eine Antwort übermitteln, in der diese Lage anschaulich zum Ausdruck kommt. Dort heißt es u.a., daß die Reichsstände mit einer Menge fadenscheiniger Gründe supremam potestatem caesaream jus dicendi in Frage stellen wollten. Solche Ziele verfolgten sie bereits seit den Zeiten Kaiser MAXIMILIANS I. Damals hätten sie sogar durch das sogenannte reichsregiment versucht, dem Kaiser die politische Herrschaft zu entwinden. Daran werde auch jetzt noch mit ohnauffhörlicher arglistigkeit ... gearbeitet. Letztlich gehe es den Ständen darum, mit dem RHR zugleich auch die kaiserliche Machtvollkommenheit wo nicht völlig außzulöschen, [so] doch zu verdunckeln.

Als sich die Gegensätze zwischen den beiden mächtigsten Gliedstaaten Preußen und Österreich verschärften, wurde dem Reich fast jede Wirkungskraft entzogen. Mit der Eroberungspolitik Napoleons zeichnete sich das Ende des Reiches ab.

 

 

3. – Entwicklungen des Föderalismus. im 19. Jahrhundert

 

a. Wiener Kongreß und Liberalismus.

Nach den Napoleonischen Siegen über Preußen und Österreich brach das Heilige Römische Reich endgültig zusammen. Am 6. August l806 legte Kaiser FRANZ II. die Kaiserkrone nieder und löste die noch bestehenden Reichsinstitutionen auf. Es folgten die sog. Befreiungskriege, die 1813 mit einer Niederlage Napoleons endeten.

Auf dem Wiener Kongreß von 1815 sollte Deutschland neu geordnet werden. Schon wegen der Ansprüche auf staatliche Selbständigkeit der beiden rivalisierenden Länder Preußen und Österreich, kam ein Reich mit einer einheitlichen Zentralgewalt nicht in Betracht. Hinzukam, daß das Ziel des Wiener Kongresses die Wiederherstellung der alten Ordnung und die Zurückdrängung der neuen freiheitlichen Bewegung war, die einen zwar föderativ strukturierten, aber einheitlichen Nationalstaat wünschte. Letztlich ging es auf dem Kongreß in Wien unter der Federführung des restaurativ gesinnten österreichischen Staatskanzlers Fürst K. METTERNICH um dynastische Legitimität, territoriale Souveranität sowie eine föderativ staatenbündische Ordnung gegen die liberale, die demokratische und die nationale Bewegung (Th. NIPPERDEY). Man knüpfte daher an die Partikularismusentwicldung des untergegangenen Reiches an.

Das Ergebnis des Wiener Kongresses war ein Staatenbund, der aus den «souverainen Fürsten und freien Städten» Deutschlands bestand (Art. 1 der Wiener Schlußakte von 1820). Zweck des Bundes war die «Erhaltung der außeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten» (Art. 2 Deutsche Bundesakte).

An der Spitze stand die Bundesversammlung mit Sitz in Frankfurt am Main (Art. 4 Deutsche Bundesakte), ein schwerfällig arbeitender Gesandtenkongreß, der kein nennenswertes politisches Gewicht hatte. Der Bund hatte keine übergreifenden Kompetenzen für Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung. Er war daher ein «völkerrechtlicher Verein» (Art. 1 Wiener Schlußakte) fast ohne jede Zentralgewalt. Dementsprechend entfaltete er auch in der Praxis keine Initiativen, um die in Deutschland drängenden Vereinheitlichungsprobleme auf den Gebieten des Rechts und der Wirtschaft zu regeln. Selbst die Anstrengungen für eine gemeinsame militärische Verteidigung, die nach der Bundeskriegsverfassung durch ein Bundesheer zu erfolgen hatte, blieben schwach.

Insgesamt ist der Deutsche Bund von 1815 ein typisches Beispiel für einen partikularistisch-föderalistisch organisierten Staatenbund; allerdings mit der Besonderheit, daß die beiden europäischen Großmächte Österreich und Preußen die bestimmenden Kräfte des Bundes waren.

Mit dem Deutschen Bund, der den Status qua ante symbolisierte, waren die Hoffnungen der bürgerlich-liberalen Bewegung enttäuscht worden. Ihre Ziele, den Deutschen Bund in einen föderativen nationalen Bundesstaat Prägung umzuformen, wurden zwar in der Verfassung der Frankfurter Paulskirche von 1848/9 festgelegt. Sie konnten aber politisch nicht umgesetzt werden, weil es an der notwendigen Zentralgewalt fehlte. Der Deutsche Bund zerbrach jedoch, nachdem 1866 Preußen Österreich bei Königgräz besiegt hatte. Wiederum wurde der Weg für eine Neuordnung Deutschlands frei, diesmal ohne die Einbeziehung Österreichs.

 

b. Die Reichsgründung von 1871.

Der erste Schritt war der Norddeutsche Bund, ein unter der Führung Preußens und seines Kanzlers OTTO v. BISMARCK geschaffener Bundesstaat von 17 norddeutschen Kleinstaaten, dessen Verfassung die Grundlage für die Reichsverfassung (RV) vom 16. April 1871 bildete.

Im Vorspruch dieser Verfassung wird das Deutsche Reich zwar als "Ewiger Bund" bezeichnet. Dennoch handelte es sich diesmal nicht um einen aus souveränen Einzeltstaaten bestehenden Staatenbund, sondern um einen Bundesstaat. Der neue Staat war eine konstitutionelle Monarchie, in der auf kunstvolle Weise «die national- unitarischen, die föderativen, die hegemonialen, die liberalen und die obrigkeitlich- antiparlamentarischen Prinzipien» (Th. NIPPERDEY) vereinigt waren. Insgesamt beruhte diese Monarchie auf der Koordination von «volksgewählter Legislative und monarchischer Exekutive, auf der Verbindung des Repräsentativsystems mit dem monarchischen Grundsatz» (A. Laufs).

Die hier besonders interessierenden föderativen Prinzipien waren durch weitgehende Autonomierechte der Gliedstaaten aufweiten Gebieten des Verfassungsrechts, der Justiz, der Steuer, der inneren Verwaltung, des Unterrichtswesens, der Wissenschafts- und Kunstpflege sowie der Landeskultur verwirklicht. Außerdem hatten die im Bundesrat organisierten Gliedstaaten das Recht, an der Gesetzgebung zusammen mit der im Reichstag repräsentierten Volksvertretung mitzuwirken. Die Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Gremien war Voraussetzung für das wirksame Zustandekommen eines Reichsgesetzes (Art. 5 I RV). Ohne den Konsens des Bundestages war folglich das Reich gesetzgebungsunfähig.

Dem hegemonialen Prinzip war u.a. dadurch Rechnung getragen worden, daß Preußen in der Person des Reichskanzlers BISMARCK im Bundesrat den Vorsitz und die Geschäfte führte (Art. 15 I RV). Preußen dominierte darüber hinaus als stärkster Einzelstaat durch seine machtpolitische Überlegenheit. Diese kam bereits in seiner Stimmenzahl zum Ausdruck. Während Bayern beispielsweise nur über 6 und Sachsen nur über 4 Stimmen verfügte, hatte Preußen 17 Stimmen (Art. 6 RV). Auch wenn Preußen damit nicht über die. Mehrheit verfügte, kam doch de facto ohne die Einwilligung Preußens keine Entscheidung zustande. Die hegemoniale Stellung Preußens kam nicht zuletzt in den Doppelstellungen des Kaisers und des Kanzlers zum Ausdruck. So war der preußische König zugleich Deutscher Kaiser und der preußische Ministerpräsident zugleich der Reichskanzler. Reichsämter und preußische Ämter waren also miteinander verzahnt. Insoweit hat man es - wie schon die zeitgenossische Staatsrechtlehre richtig erkannte - mit einem "hegemonialen Föderalismus". zu tun. Manche haben hierin sogar einen Idealtyp föderativer Gestaltung gesehen. Denn allein der "hegemoniale Föderalismus", werde der lebendigen Wirklichkeit gerecht und könne dauerhafter einen Bund erhalten als ein föderatives System, das aus gleichstarken und daher leicht auseinanderstrebenden Partnern besteht.

Der Föderalismus. des zweiten deutschen Reiches «verband relative Autonomie und Mitbestimmung der Gliedstaaten und die preußische Hegemonie mit den Elementen der bundesstaatlichen Einheit» (TH. NIPPERDEY). Er war auf das ganze gesehen recht erfolgreich, weil sich die Gliedstaaten mit dem neuen System schnell anfreundeten und nicht - wie in früheren Zeiten - die Gesetzesinitiativen des Reiches durch ihre Partikularinteressen von vornherein blockierten. Auf diese Weise konnten die großen deutschen Kodifikationen auf den Gebieten des Strafrechts, des Zivilrechts, des Prozeßrechts, aber auch des Arbeits- und Sozialrechts entstehen, die fortan zu den integrierenden Bestandteilen des Reiches gehörten.

 

 

4. – Das föderative System der Weimarer Republik

 

Als Deutschland 1918 den 1. Weltkrieg verloren hatte, ging auch das Kaiserreich unter. Ihm folgte bekanntlich die Weimarer Republik.

Gegenstand der langwierigen Vorarbeiten zu der am 11. August 1919 verkündeten Weimarer Reichsverfassung (WRV) war auch das Verhältnis zwischen Reich und Ländern. Der hegemoniale Föderalismus Preußen s sollte beseitigt werden. Stattdessen war ein demokratischer "Volksstaat" gewollt, in dem sich zentralistische und föderalistische Kräfte ausgleichen sollten. Tatsächlich wurde jedoch eine Stärkung der Zentralgewalt zu Lasten der Einzelstaaten, also ein unitarisch-föderalistischer Bundesstaat angestrebt. Die entsprechenden, auf den Staatsrechtslehrer HUGO PREUß (1860-1925) zurückgehenden Vorschläge, stießen jedoch auf den Widerspruch vor allem der süddeutschen Staaten.

Das Ergebnis von Weimar war gleichwohl im Vergleich zum Reich von 1871 ein unitarisierter Bundesstaat. Bereits in der Tatsache, daß jetzt das Vertretungsorgan der Länder nicht mehr Bundes-, sondern Reichsrat und die einstigen "Bundesstaaten" Länder heißen sollten (Art. 60 ff. WRV), kam dieses Veränderung zum Ausdruck. Die Autonomierechte der Länder wurden in der Tat nicht unerheblich beschnitten. Ihre bisher umfänglichen Gesetzgebungskompetenzen wurden zugunsten des Reiches verschoben (Art. 6 ff WRV) und ihre Mitwirkungsrechte an der zentralen Willensbildung im Reichsrat eingeschränkt. Gegen die vom Reichstag beschlossenen Gesetze hatte der Reichsrat zwar ein Einspruchsrecht. Diese Recht konnte aber vom Reichstag mit einer Zweidrittelmehrheit überstimmt werden (Art. 74 WRV). Die einst führende Rolle Preußens wurde beseitigt. Seine Stimmen im Reichsrat wurden auf zwei Fünftel aller Stimmen begrenzt (Art. 61 I WRV). Und natürlich wurden auch die einstigen, die preußische Reichsmacht stärkenden Doppelfunktionen des Reichsoberhaupts und des Reichskanzlers eliminiert. Damit war an die Stelle eines obrigkeitlich-konstitutionellen Partikularföderalismus ein demokratisch-unitarischer Föderalismus getreten.

Eine äußerst wichtige und, wie sich später zeigen sollte, verhängnisvolle zentralistische Regelung erfuhr die Anwendung der Reichsexekution. Während diese nach Verfassung von 1871 nur im Zusammenwirken von Kaiser und Bundesrat ausgeübt werden konnte (Art. 19 RV), blieb sie in der WRV allein der Entscheidung des Reichspräsidenten überlassen. Nach Art. 48 Abs. 2 WRV konnte folglich der Reichspräsident, «wenn im deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet» war, «die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen» und erforderlichenfalls «mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten». Mit dieser Vorschrift wurde die "Diktaturgewalt" des Reichspräsidenten begründet, den man, als er zeitweise nur. noch gestützt, auf Art. 48 WRV mit Notverordnungen regierte, spöttisch auch "Ersatzkaiser" nannte.

Als die WRV 1924 einer Revision unterzogen werden sollte, erhob die bayerische Staatsregierung in einer Denkschrift nochmals ihre Stimme gegen den Zentralismus und Unitarismus. Sie erklärte u.a., daß die Einzelstaaten durch diese Gewichtsverschiebung «an Lebenskraft mehr eingebüßt» hatten «als das Reich gewonnen» habe. Alle Erfahrungen der letzten Jahre zeigten, «daß das Reich nicht gesunden» könne, «wenn ihm die Gesundung nicht von den Einzelstaaten her zuteil» würde. Weil die Menschen in den Einzelstaaten eine unmittelbare Beziehung zur Politik hatten, seien hier «die Bedingungen für eine gedeihliche Entwicklung von Staat und Volk viel mehr gegeben als im Reiche». Insgesamt werde «der unitaristische Zentralismus der Weimarer Verfassung ... dem historischen deutschen Nationalstaatsgedanken, der auf dem starken Selbstgefühle der Einzelstaaten» fuße und aus diesem heraus «zum Ganzen» strebe, nicht gerecht.

Man mag diese Kritik mit dem Argument beiseite schieben, Bayern habe sich nur eine partikularistische Sonderstellung - besonders gegenüber Preußen - verschaffen wollen. Tatsache ist jedenfalls, daß die zentralistischen Tendenzen der WRV nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dem Föderalismus. in Deutschland ein Ende zu bereiten. Am 20. Juli 1932 setzte der Reichskanzler FRANZ v. PAPEN mit einer auf Art. 48 WRV gestützten Vollmacht des Reichspräsidenten das ihm im Wege stehende sozialdemokratische preußische Minderheitskabinett ab. Er übernahm als Reichskommissar selbst die Regierung in Preußen. Der Staatsgerichtshof erklärte in seiner Entscheidung vom 25. Oktober 1932 diese Maßnahme für rechtens. Damit war dem deutschen Föderalismus ein schwerer Schlag versetzt worden.

Als die Nationalsozialisten den diktatorischen Einheitsstaat proklamierten, fehlte dem deutschen Föderalismus die Kraft, dieses Vorhaben zu verhindern. Dabei muß offen bleiben, ob ein mehr partikularistisch strukturierter Föderalismus den Plänen der Nationalsozialisten mehr Widerstand entgegengesetzt hätte. Tatsache ist jedenfalls, daß mit dem «Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich» vom 31. März 1933 und mit dem «Gesetz über dem Neubau des Reiches» vom 30. Januar 1934 der Föderalismus. in Deutschland sein vorläufiges Ende gefunden hatte.

 

 

III. Schlußbetrachtung

 

Wie gezeigt, ist die deutsche Verfassungsgeschichte beginnend vom mittelalterlichen Ständestaat über die konstitutionelle Monarchie zur parlamentarischen Republik nachhaltig durch Partikularismus und Föderalismus. bestimmt worden. Dabei haben sich sehr unterschiedliche Formen des Föderalismus. entwickelt.

Die Frage, ob der unitarische oder partikularische, ja, vielleicht sogar der hegemoniale Föderalismus, den Vorzug verdient, läßt sich nicht ohne weiteres beantworten. Hier gibt es keinen absoluten und zeitlosen Maßstab. Darüber, wie am besten das Gleichgewicht zwischen Zentral- und Partikulargewalt hergestellt werden kann, entscheiden die jeweils in einer historischen Situation gegebenen politischen Bedingungen. .

Eine der wichtigsten Fragen einer föderativen Staatsverfassung bleibt jedoch, «ob und wann die Zentralgewalt berechtigt, ja verpflichtet ist, von oben herab direkt in den Kompetenzbereich der Einzelstaaten einzugreifen» (E. v. PUTTKAMER). Sicherlich kann mit einer solchen Befugnis im Ernstfalle der föderative Charakter eines Staates bewahrt werden. Wie besonders die Weimarer Verhältnisse zeigen, ist aber auch ein Mißbrauch der Zentralgewalt nicht ausgeschlossen. Es kommt daher entscheidend darauf an, sie so zu regeln, daß durch ihren Einsatz das föderative Gebilde in seinem Kern nicht zerstört werden kann.

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich nach dem Ende des 2. Weltkrieges mit Unterstützung der westalliierten Besatzungsmächte anders als der Einheitssaat der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wiederum für eine föderalistisches Staatssystem entschieden, zugleich aber auch die Konsequenzen aus ihrer Geschichte gezogen. Ihr Grundgesetz vom 23. Mai 1949 (GG) kennt kein Notverordnungsrecht mehr. Auch die 1968 in das GG eingefügte sog. "Notstandsgesetzgebung" verleiht der Zentralgewalt keine dem Art. 48 WRV vergleichbaren Befugnisse. Außerdem ist eine Änderung des GG, «durch welche die Gliederung des Bundes in Länder» und «die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung berührt werden», unzulässig (Art. 79 III GG). Und schließlich sind Zwangsmaßnahmen der Bundesregierung gegen ein Bundesland nur mit Zustimmung des Bundesrates zulässig (Art. 37 GG).

Im übrigen ist der unitarische Föderalismus. von Weimar einem mehr partikularistischen Föderalismus. gewichen. Auch wenn die Kompetenzen der ausschließlichen und konkurrierenden Bundesgesetzgebung (Art. 70 ff. GG) diejenigen der Länder bei weitem überwiegen, bleibt diesen doch ein beträchtlicher Spielraum zu einer eigenständigen gesetzgeberischen Gestaltung. Darüber hinaus sind dem Bundesrat hinreichende und institutionell abgesicherte Mitwirkungsrechte (Art. 79 III GG) an der Gesetzgebung des Bundes eingeräumt worden (Art. 50, 77 ff. GG).

Obwohl sich in der Praxis seit 1949 die Gesetzgebung immer mehr auf den Bund verlagert hat, ist das politische Gewicht der Länder nicht geringer geworden. Gerade weil der Bund seine Gesetzgebungskompetenzen extensiv nutzt, machen die Länder im Bundesrat von ihren Mitwirkungsrechten stärkeren Gebrauch. Sie setzen sie vor allem ein, wenn im Parlament andere Mehrheitsverhältnisse als im Bundesrat herrschen. In diesem Falle geht es den Ländern häufig nicht mehr nur um ihre spezifischen Sonderinteressen, sondern um politische Opposition gegen Regierung und Parlament. Das fuhrt dazu, daß wichtige, von der Regierung für dringend notwendig gehaltene Gesetzesvorhaben durch den Bundesrat blockiert werden. Die politische Handlungsfähigkeit der Regierung wird damit erheblich eingeschränkt.

Vor diesem Hintergrund kommt es in Deutschland immer wieder zu Föderalismus Diskussionen, indenen es um die "Macht des Bundesrates" geht. Die Regierung behauptet, die Opposition mißbrauche ihre Mehrheit im Bundesrat als "Waffe im Kampf um die Macht". Sie mache den Bundesrat zu einer "Gegenregierung". Der Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof hat eingewandt, daß die Mitwirkungsrechte des Bundesrates an der Gesetzgebung überwiegend nur im Interesse der Länder und nicht im Bundesinteresse ausgeübt werden dürften. Andere sehen die Gefahr, daß die Bundesrepublik Deutschland unregierbar werden könnte. Befürchtet werden außerdem Schwächen der Bundesrepublik in einem zukünftigen vereinten Europa. Es Wird nach alledem überlegt, ob man nicht die Mitwirkung der Länder an der Gesetzgebung des Bundes "tendenziell" zurückzunehmen und die Bundesstaatlichkeit stärken solle.

Demgegenüber gibt es - auch aus den Reihen der Regierung - gewichtige Stimmen, die an dem bisherigen föderalistisch strukturierten Gesetzgebungsverfahren grundsätzlich festhalten wollen. Ihrer Ansicht nach bewirkt die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern eine notwendige "Gewaltenbalance", die das herkömmliche Gewaltenteilungsprinzip zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion sinnvoll ergänzt. Das Prinzip von checks and balances werde auf diese Weise gewährleistet. Sie weisen außerdem daraufhin, daß nach der Statistik bisher überhaupt nur ein Prozent der Gesetzesvorhaben an der Länderkammer gescheitert sei. Die Mitwirkungsrechte des Bundesrates dürften ferner schon deswegen nicht beschnitten werden, weil die Länder die Bundesgesetze - oft unter großem Kostenaufwand - «als eigene Angelegenheit» durchzuführen hatten (Art. 83 GG).

Zusammenfassend ist zu sagen, daß sich das historisch gewachsene Föderalismusprinzip in der Bundesrepublik Deutschland bewährt hat. Zum einen vermag es die Wünsche der Bevölkerung in den Ländern auf Wahrung ihrer meist in der Tradition wurzelnden politischen und kulturellen Eigenheiten zu erfüllen. Zum anderen überzeugt noch immer das Argument Bayerns, daß «die Bedingungen für eine gedeihliche Entwicklung von Staat und Volk» in den Einzelstaaten besser als im Gesammtstaat gegeben sind. Denn erfahrungsgemäß entwickeln die Menschen in ihren Ländern engere Beziehungen zur Politik als in einem für sie weniger überschaubaren Gesamtstaat. Und schließlich wird das Föderalismus prinzip dem Bedürfnis nach Machtverteilung gerecht. «Die Verteilung der Staatsaufgaben auf zwei staatliche Ebenen, die unabhängig voneinander demokratische Legitimation beziehen, hat sich unter den modernen Verhältnissen ebenso bewährt wie die Mitwirkung des Bundesrates bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes» (CHR. STARCK).

Eine Änderung des Föderalismusprinzips, nur weil zufällig einmal die Mehrheiten in Parlament und Bundesrat auseinanderfallen, ist nach alledem keineswegs erstrebenswert.

 

 

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