ds_gen N. 8 – 2009 – Memorie//XXIX-Roma-Terza-Roma

 

Hans Hattenhauer

Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

 

Über die Heiligkeit des Heiligen Römischen Reiches[1]

 

 

Das Heilige ist seinem Wesen nach rational nicht erfassbar. Es ist dem Glaubenden selbstverständlich und offenbare Wirklichkeit, dem Ungläubigen bleibt es fremd. Es hat weder Anbeginn noch Ende, ist nicht in der Zeit entstanden und kann nicht in ihr vergehen. Dabei ist besonders im Hinblick auf die Heiligkeit des Heiligen Römischen Reichs zu beachten, dass das Reich nicht etwa ein sanctum, sondern ein sacrum imperium ist. Beide Worte werden nicht synonym verwendet. Die Frage, inwieweit sich voneinander unterscheiden, beantworten die Digesten. Im Titel “De divisione rerum et qualitate” lehrte Marcian[2]: «Sanctum est, quod ab iniuria hominum defensum atque munitum est». Richtig übersetzt man sanctus also nicht mit “heilig”, sondern “geheiligt, geweiht”. Zu den geweihten Gegenständen rechnete Marcian beispielsweise unter anderen die Stadtmauern. Es ging bei der sanctitas mithin um einen gesteigerten Rechtsschutz der geheiligten Gegenstände, während von göttlicher Stiftung und Majestät, menschlicher Furcht und Verehrung nicht die Rede war. Auf die Frage nach dem Unterschied der Bedeutungen von sanctus und sacer antwortete Ulpian[3]: «Proprie dicimus sancta, quae neque sacra neque profana sunt, sanctione quadam confirmata, ut leges sanctae sunt». Allerdings kannte er auch “sacra loca, quae publice sunt dedicata” und ließ die Bedeutung von sacer mit der von sanctus verschwimmen. Indem er aber eine Stufenfolge vom Profanen über das Geheiligte/sanctum zum Heiligen/sacrum behauptete, deutete er an, dass sich beide Begriffe wesentlich voneinander unterschieden. Nur was sanctum werden sollte, bedurfte einer sanctio, eines Aktes der Heiligung und Weihe. So wurden die Gesetze durch “Sanktion” dem Profanen entnommen und unter einen gesteigerten Rechtsschutz gestellt, wurden von den Bürger zu respektierende, unverletzliche Gegenstände der Verehrung. Sanctum war ein Gegenstand also nicht kraft seiner Natur, konnte es zwar, musste es aber nicht werden. Sacrum dagegen war etwas ursprünglich, kraft seines Wesens Heiliges und bedurfte keiner Heiligung durch Menschen. Wenn sich das Römische Reich mit dem Prädikat sacrum schmückte, war dies sein Anspruch, dass es nicht von Menschen geheiligt worden, sondern eine Gott war, vor Anbeginn der Welt für alle Zeiten eine der Menschheit gewidmete göttliche Offenbarung.

Diese Feststellung wird allerdings in Frage gestellt durch den sonstigen Wortgebrauch von sacer in den römischen Rechtsquellen[4]. Unter den 605 Belegen aus dem Corpus iuris civilis, den Institutionen des Gaius, den Paulus-Sentenzen und den Fragmenta vaticana gibt es viele Wortverbindungen und –abwandlungen von sacer, vor allem in Gestalt von sacratissimus und sacrosanctus, ohne dass sich diese eindeutig von sacrum abgrenzen lassen. Mit sacratissimus wurde in der Regel bezeichnet, was mit der weltlichen Herrschaft, insbesondere mit der Person des Kaisers zu tun hatte, während sacrosanctus vornehmlich dem kirchlichen Sprachgebrauch angehörte. Dazu seien hier einige Beispiele aus der Fülle von Belegen mitgeteilt. So wird sacratissimus in Verbindung mit imperator, princeps, constitutio, legislator, urbs, palatium, civitas, aedes, fiscus, iussio, ecclesia, largitio, comitatus, vasa, virgo verwendet, sacrosanctus dagegen in Verbindung mit ecclesia, evangelium, scriptura, religio, baptisma, symboluni, mysterium, altare, lex, antistes. Das Wort sacer endlich gewann in seiner Verbindung mit den anderen beiden einen geradezu inflatorischen Charakter: adnotatio, aedes, apex, auditorium, beneficium, certamen, civitas, color, consistorium, cubiculum, dominium, delegatio, epistola, fames, familia, iudicium, iussio, lex, largitio, locus, moneta, mons, oraculum, oratio, palatium, paterna, praefectura, patrimonium, pragmatica sanctio, res, rescriptum, scriptura, statua principis, sacerdos, urbs, vasa, vestis. In dieser Fülle der Bedeutungen und des Wortgebrauchs von sacer lassen sich in den späteren Rechtsquellen zwar Schwerpunkte, nicht aber klare Begriffe erkennen. Die Inflation der Superlative nahm in der Kaiserzeit, noch mehr aber in Byzanz deutlich zu.

Was aber bedeutete sacer in den Quellen des römischen Rechts im Hinblick auf das imperium? Lässt sich hier eine Kontinuität vom römisch-byzantinischen Wortgebrauch zum Titel des späteren Heiligen Römischen Reiches feststellen? Trotz des byzantinischen Kaiserkultss, seines heilig-kultischen Hofzeremoniells[5] und der Legitimation des Reiches durch die christliche Lehre[6] bekommt man im spätantiken Recht auf diese Frage und auf jene nach einer vom byzantinischen Reich als solchem etwa beanspruchte Heiligkeit keine Antwort. Während nämlich sacer in allen seinen Wortverbindungen immer auf den Kaiser und dessen Kult bezogen ist, fehlt jeglicher Beleg, der dem Reich selbst originäre Heiligkeit zuerkannt hätte. Die Wortverbindungen sacrum imperium, sacrum regnum kommen im römischen Recht nicht vor. Nur der Kaiser, nicht aber sein Reich war heilig.

Angesichts dieses Schweigens der antiken Rechtsquellen muss man beim Titel des mittelalterlichen Heiligen Römischen Reichs selbst ansetzen und prüfen, wann, warum und von wem das Prädikat sacrum in dessen Titel aufgenommen wurde. Diese Frage ist seit langem beantwortet. Das Sacrum Imperium Eomanum führt das Prädikat der Heiligkeit seit dem Jahr 1157 in seinem Titel[7], während der Zusatz “deutscher Nation” dem Titel erst im Jahre 1474 beigegeben wurde[8]. Diese Tatsache kann allerdings noch nicht klären, worin das Wesen der Heiligkeit des Reiches bestand. Zu fragen ist also zuerst nach den theologisch-philosophischen Grundlagen und den staatsrechtlichen Motiven der Erweiterung des Reichstitels vom Jahre 1157.

Auf der Suche nach geschichtlichen Wurzeln der Neuerung von 1157 muss man zuerst in der Bibel nachfragen. Dort entdeckte die alte Kirche auf der Suche nach staatsrechtlicher Legitimation des christianisierten Imperium Romanum im Alten Testament das Buch des Propheten Daniel. Sie fand darin den Beweis, dass mit dem Römischen Reich das von Daniel vorhergesagte letzte Weltreich Wirklichkeit geworden und damit das Ende aller Zeiten gekommen war. Bei Daniel entdeckte sie den Beweis der Heiligkeit dieses letzten aller Weltreiche[9]:

 

«Das Reich und die Macht und die Gewalt über die Königreiche unter dem ganzen Himmel wird dem Volk der Heiligen des Höchsten gegeben werden, dessen Reich ewig ist, und alle Mächte werden ihm dienen und gehorchen».

 

Es war mit diesem Reich zwar eigentlich das allen irdischen Großreichen folgende göttliche Heilsreich gemeint, nicht also eigentlich das römische, letzte irdische Reich. Aber war mit dessen Christianisierung nicht bereits hier auf Erden die verheißene Gottesherrschaft angebrochen? Der mittelalterlichen Schriftauslegung machte es keine Schwierigkeiten, dieses “Reich/regnum” in Byzanz verwirklicht zu sehen, zumal bereits die vorchristliche Reichsideologie gelehrt hatte, dass das Reich der römischen Kaiser ewig sei[10]. Mit dem Danielswort ließ sich nun um so nachdrücklicher die Endgültigkeit und Ewigkeit des christianisierten Römischen Reiches beweisen.

Es hat im Abendland immer die Behauptung der Heiligkeit weltlicher Herrschaft in der Spätantike wie im Mittelalter gegeben. Pippin und Karl der Große dachten nicht daran, auf den Anspruch geheiligte Herrschaft zu verzichten[11]. Dies um so weniger, weil die den Karolingern fehlende Geblütsheiligkeit ein Makel war, der nur mit Hilfe der Kirche ausgeglichen werden konnte. Wie immer man die Kaiserkrönung Karls des Großen vom Jahre 800 im übrigen bewerten mag, ist doch deren heilsgeschichtliche Deutung durch ihre Zeit unübersehbar[12]. Kaiser Karl beanspruchte für sich das Vikariat Christi. In Rom hatte ihm der Papst nach Behauptung der fränkischen Reichsannalen, die Proskynese erwiesen. Dort habe ihn das Volk der Römer als a Deo coronatus begrüßt. Karl war der neue David, rex et propheta, rex et sacerdos. Nach den Worten Alkuins war sein Reich ein sacratissimum imperium[13], der Kaiser selbst ein sanctus imperator[14].

Dies alles waren Prädikate, die man im Reiche Karls des Großen von Byzanz entlehnt hatte. Damit aber hatte man das sacrum imperium von 1157 noch nicht vorweggenommen. Die karolingische Wortwahl entsprach jener des Corpus iuris, insbesondere des Codex Justinians, und war Nachahmung oströmischer Herrschaft. Zwar war nun die unmittelbare Heiligkeit des Reiches selbst unabhängig von jener des Kaisers sprachlich in der Wendung sacratissimum imperium möglich geworden, doch scheint sich Alkuin der unterschiedlichen Bedeutung von sacer und sanctus nicht mehr bewusst gewesen zu sein. In seiner gehaltvollen Besprechung der “Deutschen Verfassungsgeschichte” von Georg Waitz hat vielmehr W. Sickel[15] zutreffend die Summe des byzantinischen Erbes für das Abendland im allgemeinen und für das Karolingerreich im besonderen zusammengefasst:

 

«Aus der Heiligkeit des Kaisers ist die Heiligkeit des römischen Reiches hervorgegangen, wohl in der Weise, daß an die persönliche Eigenschaft des Imperators sich die Vorstellung anschloß, auch der von ihm regierte Staat sei ein heiliger Staat, ohne daß diese neue Staatseigenschaft bei den Griechen die persönliche Heiligkeit des Kaisers beseitigt oder auch nur in den Hintergrund gedrängt hätte. Der neue Begriff des heiligen römischen Reiches ist, soviel ich bemerkt habe, erst in christlicher Zeit und wahrscheinlich auch durch christliche Ideale geschaffen worden».

 

Sickel legte für diese These eine Fülle von Belegen vor. Es gab in der ost- wie der weströmischen Welt die Rede von einer hagia basileia und einem sanctum imperium. Auch fällt die Häufung dieser Formeln in der Karolingerzeit auf. Etwas aber fehlt in dieser reichen Sammlung einschlägiger Belege: die Formel sacrum imperium. Percy Ernst Schramm[16] betonte zwar, dass wir eine Fülle antiker Belege für das “heilige Reich” besitzen. Das trifft zwar zu, aber mit der Einschränkung, dass das spätere sacrum imperium dort noch fehlt und dies auch in der am Alten Testament und dessen Heiligkeitstheologie anknüpfenden Reichstheorie Kaiser Ottos I des Großen. Dass dies dem Zufall oder sprachlicher Ungenauigkeit zu verdanken wäre, kann man nicht annehmen. Auch für das Karolingerreich galt noch das in Byzanz bereits bemerkte argumentum e silentio. Sanctus war nicht sacer, das karolingische sacratissimum imperium nicht das spätere Sacrum Imperium Romanum. Das Reich der Karolinger war auch insoweit nicht mehr als die letzte antik-römische Renaissance. Seine Titulaturen knüpften an der Vergangenheit an und wiesen in diese zurück, waren aber nicht Ausdruck eines in die Zukunft blickenden Selbstverständnisses. Das Karolingerreich war also kein Bindeglied zwischen dem byzantinischen Imperium und dem Sacrum Imperium Romanum.

Damit führt die Frage nach der Heiligkeit des Reiches schließlich doch zurück zu jener, warum dieses Prädikat ein Teil des Reichstitels hat werden können und was das Reich damit für sich beanspruchte. Da hierfür weder theologische noch staatsrechtliche Vorbilder vorhanden gewesen waren und es vermocht hatten, ihm dieses Prädikat zu verschaffen, liegt das Problem zuerst in der Titelreform selbst. Hier stehen wir auf sicherem Boden. Das Prädikat sacrum wurde dem Imperium im Jahre 1157 beigegeben. Es verdrängte alle anderen ähnlichen Prädikate und wurde von da an ständig verwendet. Den Schritt von dem durch die Heiligkeit der Person des Kaisers geheiligten sanctum zum eigenständigen Sacrum Imperium vollzog Kaiser Friedrich I. Barbarossa in einem Schreiben an Bischof Otto von Freising vom April 1157[17]:

«Weil Wir dank göttlicher Vorsehung die Herrschaft über die Stadt Rom und die Welt innehaben, müssen Wir uns wegen vorgefallener Ereignisse und des Ganges der Zeit um das heilige Reich und das göttliche Gemeinwesen kümmern».

Es ging dem Kaiser um eine neue Reichspolitik und um ein diese begründendes neues Selbstverständnis des Reiches[18]. Die Vermutung aber, dass die Einführung des Heiligkeitsprädikats Ausdruck und Bestätigung des an kaiserlichen Hof aufblühenden Karlskults gewesen wäre, muss man wohl verwerfen. Das Karolingerreich war, wie gesagt, für die Entwicklung einer solchen Neuerung als Vorbild ungeeignet. Ursache der Titelreform war vielmehr die Auseinandersetzung des Kaisers mit der römischen Kurie, des Investiturstreits. Hierzu gibt Percy Ernst Schramm einen wichtigen Hinweis[19] mit dem Stichwort imitatio. Es habe in der Konkurrenz zwischen Sacerdotium und Imperium auf beiden Seiten das Bestreben gegeben, sich die Prädikate der Gegenmacht auch seinerseits zu bedienen und sie sich anzueignen. Unter Hinweis auf den Dictatus Papae Papst Gregors VII. vom Jahre 1071 und dessen Lehrsatz[20]: «VIII. Quod solus (Romanus pontifex bezw. papa) possit uti imperialibus insignis» zeigte Schramm, dass es auf Seiten der Kurie eine imitatio imperii gab. Bereits seit der Zeit der sächsischen Kaiser aber gab es ebenso eine imitatio sacerdotii des Reiches. Kaiser Otto I. der Große hatte dies aller Welt bei seiner Kaiserkrönung vor Augen gestellt. Er hatte sich nach dem Zeugnis Liutprands der Christenheit in einem «mirus ornatus novusque apparatus/neuen, staunenswerten Ornat» gezeigt. An dessen Gürtel hingen, wie an jenem des Hohenpriesters, Glöckchen, auf seinen Schultern trug er den “Weltenmantel”, wie er mit seinen Sternbildern schon vom Hohenpriester getragen worden war. Auf seinem Haupte ruhte die Reichskrone, deren Schmuck gleichfalls eine Bezugnahme auf das Alte und das Neue Testament, die weltliche und die geistliche Gewalt des Kaisers war. Zudem trug der Kaiser wie die Hohenpriester des Alten Bundes eine weiße Mitra. Eine solche imperiale imitatio ecclesiae hatte es bis dahin nicht gegeben.

Kaiser Otto I. der Große hatte das Priesterkönigtum Davids und Salomos nachgeahmt und dessen Rang für sich beansprucht. Die Heiligkeit seines Kaisertums wurde biblisch begründet und machte dem Papst den Anspruch auf alleinige Heiligkeit streitig. Diese kaiserliche Heiligkeit war aber noch immer personaler und nicht institutioneller Natur. Zwischen der Kaiserkrönung Ottos des Großen im Jahre 962 und der Titelreform von 1157 lagen zwei Jahrhunderte, in denen der Konflikt zwischen Papst und Kaiser an Härte ständig zugenommen hatte, damit aber auch der Bedarf nach des Imperiums nach transpersonaler Verfestigung seiner Herrschaft. War auch das Kaisertum Ottos I. noch als heilig dargestellt worden, musste dies nun, weitaus klarer, durch Friedrich I. Barbarossas für das Reich selbst zum Ausdruck gebracht werden und zur Sprache kommen. Gestützt auf die Bibel und das wiederentdeckte Corpus iuris, beanspruchte Barbarossa originäre Heiligkeit nicht für sich selbst, sondern für das Reich. Dass sie transpersonal und institutionell verankerte war, war Imitation der seit je institutionellen Heiligkeit der Kirche. Zwar ließe sich diese Einsicht hier noch weiter vertiefen[21], doch muss in diesem Rahmen die Feststellung des Aufkommens und von nun an konsequenten Verwendens des transpersonalen Sacrum-Prädikats in der Rechtspropaganda des Reiches genügen.

Das neue Prädikat fand in der gesamten europäischen Christenheit und sogar darüber hinaus, etwa bei den Türken Anerkennung. Zwar beanspruchten die aufsteigenden Nationalstaaten für ihre Regenten neue, heiligende Titel, etwa “Verteidiger des Glaubens” oder “allerkatholischste Herrscher”, doch waren diese personaler Natur. Allein dem Reich wurde dessen institutionelle Heiligkeit als dem gottgewollten, mit jener gemeinsam zum Weltregiment berufenen Gegenüber der Heiligen Kirche zuerkannt. Auch die Anhängern der Reformation verweigerten dem Reich diesen Titel nicht. Zwar bestritten die protestantischen Fürsten des Reichs der Römischen Kirche das Prädikat der Heiligkeit und erzwangen im Reichstag zu Regensburg im Jahre 1751 den Kompromiss, wonach sie ihrerseits nur von der “Römischen Kirche” statt der “Heiligen Römischen Kirche” zu reden befugt waren. Die Heiligkeit Reiches aber stellten sie nicht in Frage. Bis heute ist es das Heilige Reich, Saint Empire, Holy Empire, Sacro Impero.

Daran hielt auch die Wissenschaft des Reichsverfassungsrechts, die so genannte Reichspublizistik fest[22]. Sie betonte stets die Gleichrangigkeit und gleiche Heiligkeit von Imperium und Sacerdotium. Ihre Lehre zum Heiligkeitsprädikat des Reiches fasste Johann Heinrich Boecler (1611-1672) in seinem 1681 posthum veröffentlichten Aufsatz über den Titel des Reichs zusammen[23]. Bei ihm finden sich schon alle Argumente und Bedenken, die spätere Forschung dazu zusammentrug. Auch der gelehrte Karl Zeumer[24] hat im Vergleich zu Boecler nichts wesentlich Neues gesagt. Nach Boecler stand das Prädikat der Heiligkeit allein dem Imperium Romanum zu. Es werde von allen anderen, sogar den nichtchristlichen Staaten, geachtet. Boecler kannte auch das Datum des Jahres 1157 und das im Investiturstreit begründete Motiv nachahmender Heiligkeit des Reiches. Er wusste, dass sacrum nicht gleichbedeutend mit sanctum ist und dass sich eine unmittelbare Kontinuität vom byzantinischen Kaisertum zum Heiligen Reich nicht herstellen lässt. Er kannte die Begründung der Heiligkeit durch den Propheten Daniel. Das Reich sei ein imperium venerabile et inviolabile. Es sei das Haupt der Christenheit, kein Staat unter Staaten, sondern die Verfassung des christlichen Europa. Es habe seine Heiligkeit ebenso gegen den Papst wie gegen die Ungläubigen bewiesen. Bis auf den heutigen Tag habe es trotz aller Irrwege und Schicksalsschlägen dank der göttlichen Vorsehung Bestand gehabt[25]. Es besitze einen nur ihm eigenen Charakter, aliquid habet proprium, singulare, publicum, solenne, dessen sancta mysteria sich allen Disputationskünsten und Wortklaubereien der Grammatici entziehe. Auf dieses Reich und dessen Heiligkeit gründe sich die Zukunft der Christenheit und damit Europas. Boecler war das Reich wegen dessen Heiligkeit ein Gottesbeweis, das in der Geschichte offenbar gewordenes Zeichen der göttlichen Fürsorge für Europa.

Im Jahre 1806 soll nach verbreiteter Lehre das Heilige Römischen Reich Deutscher Nation “untergegangen” sein. Aber wie ist diese Behauptung mit dem Charakter seiner Heiligkeit zu vereinbaren? Konnte der im Jahre 1806 die Kaiserkrone niederlegende habsburgische Kaiser Franz II. auch das Ende des Heiligen Römischen Reiches proklamieren?[26] Dass er rechtlich dazu nicht in der Lage war, sagte bereits die Reichsverfassung. Franz II. hatte vor seiner Krönung die ihm von den Reichsständen vorgelegte Wahlkapitulation[27] beschworen und gelobt, Haupt der Christenheit und deren Schutzherr zu sein. Er hatte sich in Artikel II verpflichtet: «das Reich zu “schirmen und zu mehren” und versprochen, niemals nach der Erblichkeit des Kaisertums für sich und sein Haus zu streben. Schließlich hatte er gelobt, die Reichsgrundgesetze “stets fest und unverbrüchlich halten” zu wollen».

Dass der bisherigen Kaiser Franz II., nun als Franz I. Kaiser seiner österreichischen Erblande, das Reich nicht hat auflösen können und wollen, beweist der Text seiner Abdikationsurkunde. Zwar durfte er nach althergebrachtem Reichsverfassungsrecht für seine Person abdanken. Rechtlich unzulässig war dagegen die Erklärung, dass auch das Heilige Römische Reich damit beendet werde und als aufgelöst zu betrachten sei. Die Verfasser der der Abdikationsurkunde wussten das wohl und vermieden deshalb die Verwendung des Wortes “Auflösung” oder einer ähnliche Formulierung. Franz II. erklärte vielmehr lediglich, dass er auf die Krone des Reiches “verzichte”. Das war nicht mehr und nicht weniger als die persönliche Abdankung eines dazu berechtigten Oberhauptes des Heiligen Römischen Reiches, mochte es diesen Verzicht auch für seine ganze Dynastie erklären. Das Heilige Römische Reich aber bestand auch nach dieser Abdikation fort und dies letztlich wegen dessen Heiligkeit.

Das war auch der Grund, dass nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft über Europa die Forderung nach Reform des Reiches und Wiederherstellung der Kaiserkrone in Reich und Kirche weit verbreitet war[28]. Dass dies unter den neuen politischen Bedingungen nicht möglich war, steht auf einem anderen Blatt. Doch darf man auch heute noch fragen, ob es wirklich nur ein ohnmächtiges Kommentieren der Beschlüsse des Wiener Kongresses war, als Papst Pius VII. am 14. Juni 1815 in Wien seinen Protest gegen die dort beschlossene faktische Auflösung des Heiligen Römischen Reiches überreichen ließ und feststellte[29]:

 

«Ipsum denique sacrum Imperium romanorum, politicae unitatis centrum jure habitum, et religionis sanctitate conseratum, minime redintegratum est».

 

Ahnte der Papst etwa, dass mit der verhinderten Erneuerung des Heiligen Römischen Reiches auch die Heilige Römische Kirche in den Abgrund gerissen zu werden drohte und mit beiden womöglich das christliche Europa?

 

 



 

[1] Überarbeitete und verkürzte Fassung des Beitrags in: Wilhelm Brauneder (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich und moderne Staatlichkeit, 1993, 125 ff.

 

[2] Dig. 1, 8, 8.

 

[3] Dig. 1, 8, 9.

 

[4] Herrn Dr. Menner vom Institut für Römisches Recht an der Johannes-Kepler-Universität in Linz danke ich für die Wortlisten, bei deren Auswertung ich mich hier auf Mitteilung des Gesamtergebnisses beschränke. Weitere Belege zu sacer, sacratissimus bei W. Sickel, Besprechung von Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, in Göttingische Gelehrte Anzeigen, 1901, 387 ff.

 

[5] O. Treitinger, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell, 2. Aufl., 1956.

 

[6] A. Dihle, Antikes und Unantikes in der frühchristlichen Staatstheorie, in Assimilation et résistance à la culture gréco-romaine dans le monde ancien, 1976, 323 ff.

 

[7] G. Koch, Auf dem Wege zum Sacrum Imperium, 1972, 260.

 

[8] G. Landwehr, Nation und Deutsche Nation, in Festschrift für W. Reimers, 1979, 1.

 

[9] Danil, 7, 27.

 

[10] Dihle wie Anm. 6, 326; Treitinger wie Anm. 5, 122.

 

[11] P.E. Schramm, Die Kaiseridee des Mittelalters, in Kaiser, Könige und Päpste, III (1969), 423; ID., Deutsches Reich – Heiliges Reich? Vom Alten Testament zum mittelalterlichen Kaisertum, in Kommunität, Vierteljahreshefte der Evangelischen Akademie Berlin, Nr. 24 (Okt. 1962), 152.

 

[12] H.-W. Goetz, Regnum. Zum politischen Denken der Karolinger, in ZRG (Germ. Abt.) 104 (1982), 110.

 

[13] Epistula 136.

 

[14] Ep. 257.

 

[15] Anm. 4.

 

[16] Deutsches Reich – Heiliges Reich?, (Anm. 11), 153.

 

[17] MGH Const. I, 224: «Quia divina providente clementia Urbis et Orbis gubernacula tenemus, iuxta diversos eventus rerum et successiones temporum sacro imperio et divae rei publicae consulere debemus».

 

[18] H. Appelt, Die Kaiseridee Friedrich Barbarossas, SB d. Akademie der Wissenschaften Wien, 252/4, 1967; E. Stengel, Abhandlungen und Untersuchungen zur Geschichte des Kaisergedankns im Mittelalter 1965; A. Haverkamp (Hrsg.), Friedrich Barbarossa, 1992.

 

[19] Sacerdotium und Regnum im Austausch ihrer Vorrechte: imitatio imperii und imitatio sacerdotii, in Kaiser, Könige und Päpste, IV, 1 1970, 67.

 

[20] J.J. Schmale (Hrsg.), Quellen zum Investiturstreit. 1: Ausgewählte Briefe Papst Gregors VII, 1978, Nr. 47, 148.

 

[21] Koch wie Anm. 7.

 

[22] A. Fritsch, De Titulatura, in: Tractatus XLII selecta iuris publici romano-germanici, caput XIV, in Opuscula varia, 1690, 1071; Ch.G. Buder, (Hrsg.), Artikel “Heilig”, in Repertorium reale pragmaticum iuris publici et feudalis imperii romano-germanici, 1755, 557.

 

[23] J.H. Boecler, Notitia S. R. Imperii, 1681; Anhang: Dissertatio anno 1663 scripta I. N. I. C. Sacrum Romanum Imperium, 400.

 

[24] K. Zeumer, Heiliges römisches Reich deutscher Nation. Eine Studie über den Reichstitel, 1910, 11.

 

[25] A.a.O. 416 f.

 

[26] Vorzüglich: G. Walter, Der Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und die Problematik seiner Restauration in den Jahren 1814/15, 1980 mit weiteren Nachweisen.

 

[27] J.J. Schmauss, Corpus Iuris Publici S. R. Imperii, 1794/ND 1973, 1570.

 

[28] Rheinischer Merkur, ausgewählt und eingeleitet von A. Duc, 1921, 105; J.J. Klüber, Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815, 72 ff.; H. Müller (Hrsg.), Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses 1814/15, 1986, Nr. 81, 375.

 

[29] Klüber wie Anm. 64, 444 f.